Daten generieren.
Belastungsgrenzen ausloten.

Brücken sind rechnerisch auf eine Lebensdauer von 100 Jahren ausgelegt. „Daraus ergibt sich der komplexe Anspruch für die Tragwerksplanung, die datenbasiert zu realisierbaren, sicheren, tragfähigen und gestalterisch ansprechenden Bauwerken führen sollte“, erklären Heinrich Hellmeier, Tatjana Girzius-Cam und Martin Schwesig. Sie gehören zum zwölfköpfigen Team im Bereich Tragwerksplanung bei Bockermann Fritze IngenieurConsult. Die Belastungsgrenzen von Brückenbauwerken loten sie immer wieder aufs Neue aus. So wie bei der Lippebrücke zwischen Recklinghausen und Coesfeld.

Autorin: Corinna Bokermann

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In der Lippebrücke sind 4.600 Tonnen Beton, 270 Tonnen Bewehrungsstahl und 290 Tonnen Baustahl verbaut. Sie hat eine Stützweite von 66 Metern, ist 11 Meter breit, besitzt 2 Fahrspuren und verfügt beidseitig über einen großzügigen Geh- und Radweg. Das Tragwerk des sogenannten integralen Brückenbauwerks in Verbundbauweise besteht aus Stahlhohlkästen und einer Fahrbahnplatte aus Stahlbetonfertigteilen mit Ortbetonergänzungen. Im Gegensatz zur üblichen Bauweise benötigt diese Konstruktionsart keine klassischen Lager. „Dadurch ergeben sich einerseits interessante Gestaltungsspielräume für Planende und andererseits wenig unterhaltungsaufwendige Bauwerke für den Bauende“, sagt M. Sc. Heinrich Hellmeier mit Blick auf die Lippebrücke, die nach nur 16 Monaten Bauzeit Ende 2022 fertiggestellt wurde. 

Daten für wirklichkeitsnahe Simulationen.

Die gelungene Synthese aus Ästhetik und Funktionalität stellt insbesondere im Brückenbau die Tragwerksplanenden  vor große Herausforderungen. Denn der Wunsch nach einer schlanken, filigranen Konstruktion muss auch den Anforderungen an die Standsicherheit, Robustheit und Dauerhaftigkeit gerecht werden. „Mithilfe vieler unterschiedlicher Planungsdaten können wir das Verhalten des Bauwerks wirklichkeitsnah simulieren und optimieren“, sagt Tatjana
Girzius-Cam. Und so sind die Mitarbeitenden von Bockermann Fritze IngenieurConsult in den gesamten Planungsprozess von Anfang an eingebunden. 

„Wir prüfen Entwürfe auf ihre Umsetzungsfähigkeit und unterziehen diese damit quasi einem Realitätscheck“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Martin Schwesig, der 19 Jahre lang an der TH OWL am Fachbereich Bauingenieurwesen lehrte und nun das Bockermann Fritze Team erweitert. Entscheidend ist schließlich, dass eine Brücke unter verschiedensten Aspekten hinsichtlich Herstellung, Betrieb und Wirtschaftlichkeit funktioniert. Dazu betrachten die Ingenieure das Bauwerk in fiktionalen Grenzzuständen und untersuchen diese mit rechnergestützten, numerischen Simulationswerkzeugen, die gigantische Datenmengen erzeugen. Diese umfassen unter anderem Abmessungen, Bewehrungsgehalte, Blechdicken und Festigkeitsgrößen. 

 

FEM – ein effektives Berechnungswerkzeug. 

Die Finite-Elemente-Methode (FEM) ist für Tragwerksplanende ein leistungsfähiges Berechnungswerkzeug. „FEM ist eine Abstraktion nach den Regeln der technischen Mechanik“, sagt Martin Schwesig. „Im zugehörigen FE-Modell wird die vollständige Baugeschichte des zu entwerfenden Bauwerkes abgebildet.“ Auf dem Weg zu guten Ergebnissen sind allerdings viele Schritte notwendig. Die Kunst besteht darin, das geplante Bauwerk in ein geeignetes Berechnungsmodell zu überführen, das die relevanten Fragestellungen zu dem Bauwerk verlässlich beantwortet. „Wir leiden nicht unter Zahlen. Vielmehr sprechen sie mit uns und wir bekommen eine Idee, was man daraus machen kann“, betont Martin Schwesig mit Blick auf das FE-Modell. Zumal unzählige Vorschriften, Regelungen, EU- und DIN-Normen zu berücksichtigen sind. 

Daten greifbar machen.

In der visualisierten Darstellung verwandeln sich die Daten in Kurven-, Linien- und Farbplots mit Farbskalen. „Die Zahlen werden für uns in Farbspektren übersetzt, um die unterschiedlichen Beanspruchungen darzustellen“, so Heinrich Hellmeier. Das erleichtert die Interpretation und ist Mittel zum Zweck, um herauszufinden, welche Baustoffe benötigt werden. Das FE-Modell definiert auf diese Weise Bewehrungsgehalte (AS-Werte), Blechdicken, aber auch Anforderungen an den Beton. „Die AS-Werte spiegeln zum Beispiel den Bewehrungsgehalt“, sagt Tatjana Girzius-Cam. Aus Zahlen werden physikalische Daten, aus denen sich der Grad der Beanspruchung ableiten lässt. „Wir wissen dann, wie viel Material pro Volumeneinheit in Relation zu den Abmessungen eingebracht werden muss“, unterstreicht Heinrich Hellmeier. Dadurch lassen sich Aussagen treffen, wie dick der Betonstabstahl sein muss und wie die Durchmesser und Abstände zwischen den Stäben bemessen sein müssen. Denn auch im Brückenbau gilt: Viel hilft nicht immer viel. Vielmehr müssen die Planenden an den richtigen Stellen die richtigen Stäbe setzen. Das heißt: Es gilt so viel Bewehrungsstahl einzusetzen, wie technisch und physikalisch möglich ist.

Die Qualität des Bauwerks auch über die lange Nutzungsdauer zu erhalten, ist das Ziel der Ingenieure. Die statischen Berechnungen erfassen den Kraftfluss im Bauwerk möglichst realitätsnah und stellen damit die Standsicherheit und die Dauerhaftigkeit sicher. Schwierigkeiten bei der Wahl eines Berechnungsmodells ergeben sich durch unterschiedliche Anforderungen und Eigenschaften des Bauwerks, wie beispielsweise Geometrie, Bauweise oder Belastungen. „Alles ist vernetzt, oft sogar miteinander konkurrierend“, bringt Tatjana Girzius-Cam die Herausforderung auf den Punkt. Durch unterschiedliche Parameter und Randbedingungen muss jede Brücke individuell berechnet werden. Dabei sind Bauzustände und vielfältige Lastfälle (Eigengewicht, Nutzlast, Erddruck, Temperatur, Wind, Setzungen und gegebenenfalls Anprall) zu berücksichtigen. 

Grenzzustände der Gebrauchstauglichkeit.

Da Lasten an unterschiedlichen Querschnittsteilen und Systemen einer Brücke wirken, berechnet das Team von Bockermann Fritze die Grenzzustände der Gebrauchstauglichkeit und der Tragfähigkeit auch mithilfe des sogenannten Überfahrt-Tandem-Systems. „Wir simulieren die Verkehrsbeanspruchung. Darüber hinaus gibt es Ermüdungslastmodelle, um die Dauerhaftigkeit abbilden zu können. Fahren 50.000 bis 60.000 Fahrzeuge über ein und dieselbe Stelle, summiert sich das auf und kann zu einem Ermüdungsversagen führen. „Dieser Zustand bereitet nachher Probleme. Das lesen wir zurzeit immer wieder auch in den Medien“, stellt Martin Schwesig fest.

Neben den Spannungen im Tragwerk sind auch Verformungen ein Thema. Diese ergeben sich aus den Belastungen und den Baugrundgegebenheiten. Die Tragwerksplanenden ermitteln mögliche Verformungen vorab und berücksichtigen diese schon im Planungsprozess. Dies kann dazu führen, dass ein Bauwerk überhöht hergestellt werden muss, damit es im Endzustand die vorgesehene geometrische Form aufweist. Im Fall der Lippebrücke betrug diese Überhöhung beachtliche 12 Zentimeter. „Das war erforderlich, weil durch den Ausbau von Hilfsstützen größere Durchbiegungen auftraten“, erklärt Heinrich Hellmeier. Würden mögliche Lastfälle nicht beachtet, wäre die Gebrauchstauglichkeit eines Brückenbauwerks nicht mehr gegeben. In diesem Fall wäre eine mögliche sichtbare Folge beispielsweise eine nicht funktionierende Entwässerung. 

Daten und Zahlen für den Bau. 

Sind die statischen Nachweise geklärt und in die Brückenplanung eingeflossen, geht es im Rahmen der Ausführungsplanung schließlich an die Umsetzung. Gebaut wird nach Plänen und Zeichnungen, in die sämtliche Ergebnisse der statischen Berechnungen einfließen müssen. Die Schal- und Bewehrungspläne – eine 2-dimensionale Variante, die aus dem räumlichen 3-dimensionalen Modell erstellt wird – liefern am Ende konkrete Daten und Zahlen für den Bau der Brücke. Im Fall der Lippebrücke umfasst die Statik über 1.000 Seiten. „Wir erheben schließlich zu jeder Lebensphase Daten, die für die Brückengeometrie relevant sind. 

Von der Planung über den Entwurf, die Erstellung, Nutzung und Verstärkung bis zum Rückbau begleiten wir Bauwerke über ihren gesamten Lebenszyklus“, resümiert Heinrich Hellmeier. „Das ist spannend und abwechslungsreich und erfüllt notwendige, berechtigte gesellschaftliche Anforderungen hinsichtlich der Nachhaltigkeit.“